Das Lied Von Hiawatha
Henry Wadsworth Longfellow

Einleitung

Fragt ihr mich vielleicht, von wannen
Diese Märchen, diese Sagen,
Voll vom Dufte sie des Waldes,
Voll vom Dunst und Tau der Wiesen,
Voll vom steigenden Rauch der Wigwams,
Voll vom Rauschen großer Ströme,
Voll von steter Wiederholung,
Voll von wildem Hall und Rückhall,
Wie des Donners in den Bergen?

 

Geb' ich Antwort, sprech' und sag' ich
"Aus den Wäldern und den Steppen,
Von den großen Seen des Nordlands,
Aus dem Land der Tschippewäer,
Aus dem Lande der Dacothas,
Aus den Bergen, Mooren, Sümpfen,
Wo der Reiher, der Shuh-shuh-gah,
Nahrung sucht in Rusch und Röhricht!
Wiedergeb' ich sie getreulich,
Wie vom Munde Nawadaha's,
Wie vom Mund des süßen Singers
Selber ich sie vordem hörte!"

 

Fragt Ihr mich wo Nawadaha
Diese Lieder, wild und wirblig,
Diese Sagen denn gefunden,
Geb' ich Antwort, sprech' und sag' ich:
"In des Waldes Vogelnestern,
In dem Hüttenbau des Bibers,
In des Büffelochsen Hufspur,
In dem Felsenhorst des Adlers!

 

"Sangen alle wilden Vögel
Sie ihm vor in Moor und Marschland,
In den traurigöden Sümpfen.
Chetowaik, der Kibitz, sang sie,
Mahng, der Taucher, ließ sie hören,
Sang die Wildgans sie, die Wawa,
Samt dem blauen Reih'r, Shuh-shuh-gah,
Und dem Moorhuhn, Mushkodasa!"

 

Fragt Ihr mich vielleicht dann ferner,
Sprechend: "Wer war Nawadaha?
Meld' uns doch von Nawadaha!"
Geb' ich Antwort eu'ren Fragen
Stracks in Worten, wie sie folgen:

 

"In dem Thal von Tawasentha,
In dem grünen stillen Thalgrund,
Bei den lust'gen Wasserströmen,
Sang der Singer Nawadaha.
Um das Indianerdörfchen
Grünte Wiese rings und Kornfeld,
Jenseits aber hob der Forst sich,
Standen Haine singender Tannen,
Grün im Sommer, weiß im Winter,
Immer seufzend, immer singend,

 

"Und dem Lauf der lust'gen Ströme
Mochtet weit durch's Thal ihr nachspähn!
Kanntet Frühlings ihn am Rauschen,
Sommers ihn an seinen Erlen,
Herbsts an seinem weißen Nebel,
Winters an dem schwarzen Striche,
Dort war's, daß der Singer wohnte,
In dem Thal von Tawasentha,
In dem grünen stillen Thalgrund.

"Dort von Hiawatha sang er,
Sang das Lied von Hiawatha,
Sang sein wunderbar Enstehen,
Sang sein wunderbares Wesen,
Wie er lebte, litt und schaffte,
Daß die Stämme glücklich wären,
Daß sein Volk er vorwärts brächte!"

 

Ihr, die ihr die stillen Orte
Der Natur liebt, die verschwiegnen,
Liebt den Sonnenschein der Wiese,
Liebt die Finsternis des Forstes,
Liebt den Wind hoch in den Ästen,
Liebt den Schauer und den Schneesturm,
Liebt das Rauschen großer Ströme,
Durch ihr Pfählewerk von Tannen,
Und den Donner in den Bergen,
Dessen unzählbaren Halle
Freudig schlagen mit den Flügeln,
Wie in ihren Horsten Adler, -
Lauscht auf diese wilden Mähren,
Dieses Lied von Hiawatha!

 

Die Ihr liebt der Völker Sagen,
Liebt die Lieder eines Volkes,
Die wie Stimmen aus der Ferne,
Lauschend still zu steh'n uns rufen,
Deren Ton so schlicht und kindlich,
Daß das Ohr kaum unterscheidet,
Ob Gesang sie sind, ob Rede: -
Lauscht auf diese Rothautsage,
Dieses Lied von Hiawatha!

 

Ihr mit Herzen frisch und einfach,
Die ihr Gott und die Natur liebt,
Die ihr glaubt: Zu allen Zeiten
Ist das Herz des Menschen menschlich,
Glaubt sogar in wilden Herzen
Ist ein Sehnen, Trachten, Ringen
Nach dem unverstandnen Guten,
Und die Hände, schwach und hilflos,
Suchend, tappend blind im Dunkeln,
Fassend Gottes Hand im Dunkeln,
Die empor sie zieht und kräftigt: -
Lauscht auf diese schlichte Weise,
Dieses Lied von Hiawatha!



Ihr auch, die ihr oft auf Gängen
Durch des Feldes grüne Steige,
Wo verworrene Beerenbüsche
Hängen ihre Scharlachtrauben
Über moosgrau Steingemäuer, -
Ihr, die ihr dort manchmal stillsteht,
Irgendwo bei einem Kirchhof,
Der verweist liegt und verwahrlost,
Stille steht, um still zu sinnen
Über halberloschner Inschrift,
(Wenig Sangkunst sie verratend,
Schlecht und recht, doch jeder Buchstab'
Voll von Herzlichkeit und Hoffen,
Voll des ganzen süßen Schmerzes
Um das Jetzt und das Nachdiesmal): -
Weil't, les't diese raue Inschrift,
Lest das Lied von Hiawatha!